Hallo,
heute möchte ich Dich mitnehmen bei meiner Reise von der Monogamie zu Polyamorie.
Ich denke, monogame Verbindungen unter Menschen brauch ich hier nicht zu beschreiben. Die kennt sicher jeder. Ein Mensch wächst heran, findet irgendwann einen anderen Menschen von Interesse, man trifft sich, vielleicht küsst und kuschelt man irgendwann. Die ersten Gefühle entwickeln sich, man möchte sich selbst beim anderen Wohlfühlen und ebenso, dass sich der Partner bei einem wohl fühlt. Ggf. zusammenziehen, Kinder bekommen und alles darauf vorbereiten die Enkel im Garten krabbeln zu sehen. Soweit so normal. 🙂
In den letzten 10+ Jahren waren wir hier eigentlich recht gut beschäftigt. Genau dem oben beschriebenen Pfad folgend und dann, irgendwie plötzlich, aus anderen Umständen heraus sagte meine Partnerin, dass sie Gefühle für einen anderen Mann empfindet. Wow! Das war ein Hammer und wirklich nicht leicht zu verdauen. Ich sah unsere gesamte Vergangenheit und die Visionen für die Zukunft den Bach hinunter gehen.
Es hat viele und vor allem intensive Gespräche in kurzer Zeit gebraucht das ganze auch nur im Ansatz greifen zu können. Auf der Gefühlsebene ein ziemliches Tohuwabohu mit ganz vielen Ängsten, Frust, gekränktem Stolz, der Suche nach Möglichkeiten das alles irgendwie zu retten und eben nicht so zu Enden wie manch andere Paare – Scheidung, Rosenkrieg, Wer kümmert sich um die Kinder, etc.
Nach der glaubhaften Zusicherung meiner Partnerin, dass sie mich nicht verlassen oder verlieren will, aber den anderen Mann aber als Zusatz betrachten möchte, brauchte ich einen Namen und Buzzwords für das, was da gerade in meinem Leben passiert und ob das wohl noch „normal“ ist. Irgendetwas was meinen Verstand packen kann, denn meine Emotionen und Gefühle waren einfach viel zu aufgewühlt.
Einer meiner ersten Anlaufpunkte war der Wikipedia Artikel zu Monogamie, insbesondere der Abschnitt „Monogamie beim Menschen“ brachte meinen Verstand in eine offene Neugier. Erkenntnis für mich hieraus: Monogamie ist bei Säugetieren gar nicht mal so üblich und auch bei Menschen biologisch eher nicht so stark vertreten – zumindest biologisch gesehen. Schließlich glaube ich daran, dass eines unserer Lebensaufgaben ist, die eigenen Gene zu verteilen und damit das überleben der Spezies zu sichern.
Wenn Monogamie also eigentlich eher unüblich ist, gibt es einen Namen für die Situation dass meine Frau Gefühle für einen anderen Menschen empfindet und sich daraus Bedürfnisse ergeben? Natürlich – schließlich haben wir für fast alles einen Namen – Polygamie (in meiner Interpretation „Mehrfach-Ehe“) bzw. Polyamorie (Liebesbeziehungen zu mehreren Partnern). Die Erkenntnis, dass nicht ich alleine für die Bedürfnisse meiner Partnerin verantwortlich bin, sondern dass es da Grenzen gibt, die ich nicht überwinden muss, wenn ich es nicht will oder kann – das war schon Wertvoll.
Polyamorie – ich hatte da mal in einer Episode einer Polizeiserie etwas zu mitbekommen und fand das irgendwie strange aber auch interessant.
Tief in mir drin hat mich das Thema angesprochen – es war zu dem Zeitpunkt kein „no-go“ mehr, sondern ich wollte mehr darüber erfahren und war neugierig. Nun kam die Frage auf, was mich da so beunruhigt. Ich glaube daran, dass unsere biologische Aufgabe als Menschen nicht mit dem kulturell vorgelebten Monoamoren Verhalten deckungsgleich in Einklang gebracht werden kann – zumindest nicht für mich persönlich.
Nun stand ich da. Das Kind hatte einen Namen und meinem persönlichen Informationsbedürfnis konnte ich nachgehen. Die folgenden Gespräche mit meiner Frau waren nun auch nicht mehr so beschwerlich für mich und es kam eine sehr sehr interessante Frage auf, die ich hier gerne publik machen möchte:
Ich habe zwei Kinder und natürlich liebe ich sie beide und bin gleichermaßen an ihrem wohlergehen interessiert. Als das zweite Kind zu uns kam, war diese Form der Mehrfach-Liebe kein Thema, es ging einfach.
Bei unseren eigenen Kindern, selbst bei Kindern aus der Verwandtschaft, ist das mit der Mehrfach-Liebe auf der Gefühlsebene also schon einmal möglich, warum wird es in der Partnerschaft bei Erwachsenen denn dann anders gehalten? 🤔
Ungefähr zu diesem Zeitpunkt kam noch ein weiterer Knallereffekt für mich hinzu. Wenn meine Frau das „darf“, dann „darf“ ich das ja auch. 🤯 Ich hatte eine Menge mit mir zu bereden und konnte meinen Gedanken, Fantasien und Gefühlen freien lauf lassen, um einfach mal durchzugehen, was ich mir für mich selbst vorstellen könnte und was nicht. Und nein – es ging und geht hier nicht allein um sexuelle Kontakte außerhalb der eigenen Beziehung / Ehe.
Natürlich habe ich auch in meiner bisherigen Zeit andere Frauen attraktiv gefunden, nur mehr als gucken war eben nicht „erlaubt“. Diese Grenze sollte nun nach dem Stand der Dinge nicht mehr existieren? Hallo??
Was quasi unmittelbar passierte war, dass ich auf der Straße viel offener mit anderen Menschen, vor allem Frauen umgegangen bin. Was bin ich all die Jahre durch mein Leben gegangen ohne andere Menschen zu beachten. Ging mir nicht schlecht dabei, aber nun konnte ich für mich feststellen, dass das ganz schön limitierend war. Der Eindruck ist vergleichbar damit, dass man sein Leben lang kein Eis gegessen hat und dann erst viel später bemerkt, wie gut das eigentlich schmeckt.
Nun bin ich allerdings auch ein Typ Mensch, der sehr viel von Erfahrungen profitiert und nicht alles mit sich und seinem Verstand alleine ausmachen kann. Ich möchte mich nun von Menschen inspirieren lassen, die schon da sind wo ich (vielleicht) hin möchte. Vielleicht, weil ich ja noch gar nicht die Erfahrung gemacht habe und damit für mich nicht Entscheidungsfähig bin.
Ich habe dann irgendwann die Webseite des PAN, dem Polyamoren Netzwerk e. V. unter https://www.polyamory.de/ gefunden. Genauer gesagt sogar einen Poly-Stammtisch in der Nachbarschaft. Dort habe ich mich zunächst angemeldet, mich vorgestellt und klar und authentisch meine Situation beschrieben, was soll ich sagen: Bin schlicht in diesen erlauchten Kreis aufgenommen worden und konnte erstmal eine Menge Telegram Nachrichten verfolgen, weitere Informationen und Webseiten finden und mit Menschen aus der Poly-Szene in Kontakt treten. Über meine Erfahrungen mit dem Stammtisch werde ich vermutlich gesondert schreiben.
Spoiler-Alarm: Ich habe da so fantastisch offene Menschen getroffen. Menschen die ohne Vorurteile dafür aber mit so viel Empathie unterwegs sind, dass ich Gänsehaut bekommen habe.
Fazit
Wir haben unsere Beziehung für andere Menschen geöffnet und wollen somit Raum schaffen, die Bedürfnisse die wir uns nicht selbst oder gegenseitig erfüllen können, mit anderen Menschen zu erreichen. Natürlich nicht nur nehmend sondern auch gebend – eine Aussicht auf Vielfalt die ich tatsächlich anregend finde.
Auch wenn ich Polyamorie für mich nicht selbst initiiert habe, so bin ich doch neugierig und offen für das Thema. Nicht zuletzt weil ein wenig „Ich bin gegen das System“-Punk in mir steckt und ich nicht alles von Oben gegeben akzeptieren möchte, sondern eine für mich schlüssige Begründung brauche.
Mein erster Schritt ins die Polyamorie hat sehr sehr viele Themen aufgedeckt, die ich in meiner persönlichen Entwicklung bisher verdeckt gehalten habe. Themen die aus gefühlt allen Himmelsrichtungen kommen und mal mehr und mal weniger Schmerzhaft sind. Bisher kann ich feststellen, dass es sich für mich lohnt diese Themen an mir selbst anzugehen, da ich wirklich von Woche zu Woche zu einer besseren Version von mir selbst werde.
Poly ist sicherlich nicht für jeden die richtige Lösung – es braucht meiner Meinung nach ein sehr gutes Verhältnis zu sich selbst und seinem/seinen Partner(n), wirklich viel Kommunikation um über seine Themen reden zu können und offen damit umgehen zu können. Mir geht es mit den aktuellen Aussichten recht gut und ich lerne so viel neues von meiner Partnerin als auch von mir selbst.
Ob dieser Weg nun tatsächlich unsere Ehe unterstützt oder torpediert wird sich noch zeigen müssen. Aber die Erkenntnis, dass es keine Garantien gibt bekommt hier noch einmal eine ganz andere Farbe.